OLG Hamm, Beschluss vom 23.12.2015 – 2 UF 213/15

Leitsätze:

1. Dem Unterhaltspflichtigen darf auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit nur ein Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise zu erzielen ist.

2. Als realistisch erzielbar kann auch ein Einkommen angesehen werden, dass der Unterhaltspflichtige in der Vergangenheit – wenn auch nur vorübergehend – tatsächlich erzielt hat und er trotz entsprechender Auflagen der Gerichte keinerlei Erwerbsbemühungen nachweist.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners vom 10.11.2015 gegen den am 26.10.2015 erlassenen Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Marl wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.

Die sofortige Wirksamkeit dieses Beschlusses wird angeordnet.

Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.950 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin ist die am 05.04.2013 geborene Tochter des Antragsgegners. Die Beziehung des Antragsgegners zur Mutter der Antragstellerin, in deren Haushalt die Antragstellerin lebt, ist seit dem 10.07.2015 beendet.

Der Antragsgegner hat den Hauptschulabschluss nach der Klasse 10 erworben. Er hat eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner begonnen, diese aber nicht abgeschlossen. In der Folgezeit arbeitete er bei unterschiedlichen Zeitarbeitsfirmen. In einer Autowäsche erzielte er in der Vergangenheit ein monatliches Nettoeinkommen von 1.318 €. Seit Oktober 2014 ist der Antragsgegner arbeitslos. Er bezieht mittlerweile Leistungen nach dem SGB II.

Die Antragstellerin hat die Zahlung von Kindesunterhalt für die Zeit ab Juli 2015 begehrt.

Mit Beschluss vom 22.09.2015 hat das Amtsgericht – Familiengericht – Marl dem Antragsgegner aufgegeben, seine Ausbildungs- und Erwerbsbiografie und seine Bewerbungsbemühungen der letzten Wochen detailliert darzustellen. Mit am 26.10.2015 erlassenen Beschluss hat das Familiengericht den Antragsgegner sodann verpflichtet, an die Antragstellerin zu Händen ihrer Mutter für den Monat August 2015 einen Kindesunterhalt von 118,00 € und für die Zeit ab September 2015 laufenden Kindesunterhalt in Höhe von 236,00 € zahlen. Zur Begründung hat das Familiengericht ausgeführt:

Ein Anspruch auf Kindesunterhalt für den Monat Juli 2015 und für die Hälfte des Monats August 2015 bestehe nicht. In diesem Zeitraum habe der Antragsgegner mit dem Kind noch zusammengelebt und den Unterhaltsanspruch des Kindes durch Naturalleistungen erfüllt.

Der Antragsgegner habe im Übrigen seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht genügt. Der Hinweis des Antragsgegners auf eine nicht abgeschlossene Berufsausbildung und auf den aktuellen Bezug von Sozialleistungen reiche dafür nicht aus, seine Leistungsunfähigkeit zu begründen. Vor seiner Arbeitslosigkeit habe der Antragsgegner noch eine Erwerbstätigkeit ausgeübt, mit der er 1.318 € netto monatlich verdient habe. Dieses Einkommen sei dem Antragsgegner als für ihn real erzielbar fiktiv zuzurechnen.

Selbst unter Berücksichtigung des von dem Antragsgegner zugestandenen Bruttostundenlohns von 10 € sei er unter Hinzurechnung einer zumutbaren Nebentätigkeit in der Lage, den geforderten Mindestkindesunterhalt sicherzustellen.

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den genannten Beschluss des Familiengerichts sowie hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes auf die in erster Instanz gewechselten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

Gegen den genannten Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit seiner form- und fristgerecht bei dem Familiengericht eingegangenen Beschwerde. Er trägt vor:

Das Familiengericht habe ihn zu Unrecht zur Zahlung des Mindestkindesunterhalts verpflichtet. Zwar habe er für die Dauer von 5,5 Monaten tatsächlich ein Nettoeinkommen von 1.318 € erzielt. Das Arbeitsverhältnis sei jedoch von Seiten des Arbeitgebers gekündigt worden, ohne dass ihn ein Verschulden getroffen habe. Auch bei zureichenden Erwerbsbemühungen sei er nicht in der Lage, einen solchen Job wiederzufinden. Einen solch gut bezahlten Job gebe es für Leute wie ihn auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht. Allenfalls könne er einen Bruttostundenlohn von 10 € erzielen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag der Antragstellerin unter Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses vom 26.10.2015, AZ: 43 F 91/15, zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Mit am 01.12.2015 erlassenen Beschluss hat der Senat darauf hingewiesen, dass die Beschwerde des Antragsgegners keine Aussicht auf Erfolg hat und zudem angekündigt, im schriftlichen Verfahren entscheiden zu wollen. Eine Stellungnahme der Beteiligten zu dem genannten Beschluss des Senats ist nicht erfolgt.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Zu Recht hat das Familiengericht dem Antragsgegner in dem angefochtenen Beschluss ein fiktives Einkommen angerechnet, das die Zahlung des begehrten Kindesunterhalts ohne Gefährdung seines notwendigen Selbstbehalts zulässt:

1.

Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden (sog. gesteigerte Unterhaltspflicht). Darin liegt eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht. Aus diesen Vorschriften und aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt auch die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, können deswegen nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden. Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, in die auch mögliche Nebenverdienste einzubeziehen sind, setzt neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäftigungschance des Unterhaltspflichtigen voraus (vgl. BVerfG, FamRZ 2014, 1977, 1978 Rn 17; BGH, FamRZ 2014, 1992, 1994 Rn 18; BGH, FamRZ 2014, 637, 638 Rn 9; BGH, FamRZ 2013, 1378, 1379 Rn 17f; BGH, FamRZ 2011, 1041, 1043 Rn 29ff; BGH, FamRZ 2009, 311, 313 Rn 20).

Dem Unterhaltspflichtigen darf auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit nur ein Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise zu erzielen ist (vgl. BVerfG, FamRZ 2014, 1977, 1978f Rn 17; BVerfG, FamRZ 2012, 1283 Rn 15; BVerfG, FamRZ 2010, 793, 794; BGH, FamRZ 2014, 637, 638 Rn 9). Für die Feststellung, dass für einen Unterhaltsschuldner keine reale Beschäftigungschance bestehe, sind – insbesondere im Bereich der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB – strenge Maßstäbe anzulegen. Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter wird auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden können, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien (vgl. BGH, FamRZ 2014, 637, 638 Rn 11, 13 m.w.N.; Dose, in: Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Auflage 2015, § 1 Rn 784). Dies gilt auch für ungelernte Kräfte (vgl. BGH, FamRZ 2014, 637ff Rn 13 m.w.N.). Auch die bisherige Tätigkeit des Unterhaltsschuldners etwa im Rahmen von Zeitarbeitsverhältnissen ist noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass es ihm nicht gelingen kann, eine besser bezahlte Stelle zu finden. Das gilt auch dann, wenn der Unterhaltspflichtige überwiegend im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV gearbeitet hat. (vgl. BGH, FamRZ 2014, 637ff Rn 13; Dose, in: Wendl/Dose, a.a.O., § 1 Rn 784 m.w.N.).

Die Darlegungs- und Beweislast für seine mangelnde Leistungsfähigkeit liegt beim Unterhaltspflichtigen, was auch für das Fehlen einer realen Beschäftigungschance gilt (vgl. BGH, FamRZ 2014, 637, 638 Rn 11 m.w.N.; BGH, FamRZ 2012, 517, 519f Rn 30). Der Unterhaltspflichtige hat sich unter Einsatz aller zumutbaren und möglichen Mittel nachhaltig darum zu bemühen, eine angemessene Tätigkeit zu finden, wozu die bloße Meldung beim Arbeitsamt nicht genügt. Er trägt im Verfahren die uneingeschränkte Darlegungs- und Beweislast für seine Bemühungen und muss in nachprüfbarer Weise vortragen, welche Schritte er im Einzelnen in welchem zeitlichen Abstand in dieser Richtung unternommen hat (vgl. zum Vorstehenden: BGH, FamRZ 2008, 2104ff, bei juris Langtext Rn 18). Die Bewerbungsbemühungen müssen die nötige Nachhaltigkeit erkennen lassen und dürfen keine ungeklärten zeitlichen Lücken aufweisen (vgl. BGH, FamRZ 2008, 2104, 2105 Rn 18f). Der Beweis, dass für den Unterhaltspflichtigen keine reale Erwerbsmöglichkeit für eine Vollzeittätigkeit besteht, wird regelmäßig mangels gegenteiliger Erfahrungssätze nur durch den Nachweis zu führen sein, dass der Unterhaltspflichtige sich hinreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht hat. Hierzu reicht es nicht aus, dass er sich auf die ihm vom zuständigen Jobcenter unterbreiteten Stellenangebote bewirbt (vgl. BGH, FamRZ 2014, 637, 638 Rn 17 m.w.N.; Dose, in: Wendl/Dose, a.a.O., Rn 782 m.w.N.).

2.

Danach hat das Familiengericht dem Antragsgegner zu Recht ein fiktives Einkommen zugerechnet.

Erwerbsbemühungen hat der Antragsgegner offensichtlich nicht entfaltet. Denn dazu fehlt jeglicher Vortrag. Darauf hat bereits das Familiengericht hingewiesen und dem Antragsgegner aufgegeben, seine Ausbildungs- und Erwerbsbiographie sowie seine Erwerbsbemühungen detailliert darzustellen. Dies ist weder in erster Instanz noch mit der Beschwerdebegründung erfolgt. Ohne ausreichende Erwerbsbemühungen kann nach der eingangs dargestellten Rechtsprechung, die auch von dem Senat ständig vertreten wird, nicht festgestellt werden, dass der Antragsgegner kein Erwerbseinkommen erzielen könnte, mit dem er den begehrten Kindesunterhalt zahlen kann.

Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist unerheblich, dass ihm die ARGE in Marl empfohlen haben soll, eine Teilzeittätigkeit nicht anzunehmen, sondern auf eine Vollzeitstelle zu warten. Denn es ist allgemein bekannt, dass sich eine Teilzeittätigkeit zu einer Vollzeittätigkeit entwickeln kann bzw. sich aus einer Erwerbstätigkeit eher die Chance auf eine Eingliederung in den sog. ersten Arbeitsmarkt ergibt. Diese Chance lässt der Antragsgegner ungenutzt verstreichen.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass das von dem Familiengericht geschätzte Einkommen von 1.318 € für den Antragsgegner nicht erzielbar ist. Auch dazu fehlt ein substantiierter Vortrag des Antragsgegners. Der Antragsgegner ist noch jung. Gesundheitliche Beeinträchtigungen hat er nicht. Der Antragsgegner hat in einer Autowäscherei das von dem Familiengericht zugrunde gelegte Einkommen tatsächlich erzielt. Er hat auch nicht dargelegt, dass er den Anforderungen dieser Erwerbstätigkeit nicht gewachsen war. Denn er verweist darauf, dass er die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht verschuldet habe. Es sind keine durchgreifenden Gründe benannt, dass der Antragsgegner bei ausreichenden Bemühungen ein solches Nettoeinkommen inklusive Überstundenvergütung nicht wieder erzielen könnte.

Nur vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass die vom Statistischen Bundesamt erfassten Durchschnittslöhne in Deutschland auch für ungelernte Arbeitskräfte einen deutlich höheren Bruttostundenlohn als 10 € ausweisen (vgl. www.destatis.de). Unter Berücksichtigung der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des BGH zur Anrechnung eines fiktiven Einkommens kann der Antragsgegner damit den Nachweis, er könne den geforderten Kindesunterhalt nicht bzw. nicht in voller Höhe zahlen, nur durch eine ausreichende Anzahl von Bewerbungen führen (zu den Anforderungen im Einzelnen: Palandt-Brudermüller, Kommentar zum BGB, 74. Auflage 2015, § 1603 BGB Rn 43 m.w.N.).

Selbst wenn der Antragsgegner den Kindesunterhalt ganz oder teilweise nicht aus dem mit einer Haupterwerbstätigkeit erzielten Einkommen sicherstellen kann, kommt die zusätzliche Aufnahme einer Nebentätigkeit in Betracht (vgl. BGH, FamRZ 2014, 637ff Rn 18 m.w.N.). Auf diesen Gesichtspunkt hat bereits das Familiengericht hingewiesen.

III.

Der Senat hat von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen der §§ 117 Abs. 3, 68 Abs. 3 S. 2 FamFG liegen vor. Nach der ausführlichen Anhörung der Antragsgegners durch das Familiengericht sind von einer erneuten Anhörung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten. Keiner der Beteiligten hat der Zurückweisung der Beschwerde im schriftlichen Verfahren, die der Senat in dem am 01.12.2015 erlassenen Beschluss angekündigt hat, widersprochen.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt auch §§ 243 FamFG, 113 Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. § 97 ZPO. Die Festsetzung des Beschwerdewertes folgt aus §§ 40 Abs. 1, 51 Abs. 1, 2 FamGKG. Die Entscheidung zur sofortigen Wirksamkeit hat ihre rechtliche Grundlage in § 116 Abs. 3 FamFG.

Vorinstanz:
Amtsgericht Marl, 43 F 91/15

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