OLG Hamm · Beschluss vom 7. Oktober 2008 · Az. 15 VA 7-9/08
Tenor
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Justizverwaltungsstreitverfahren wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Gegenstandswert für das Verfahren beträgt 6.000 €.
Gründe
I.)
Der Beteiligte zu 1) ist vor der 1. großen auswärtigen Strafkammer des Landgerichts Bochum in Recklinghausen wegen eines Verbrechens nach § 177 Abs.1 Nr.1 StGB angeklagt. In der Hauptverhandlung hat der Beteiligte zu 1) durch seinen Verteidiger beantragt, zum Beweis dafür, dass die Zeugin I2 seit Jahren Drogen konsumiere, verantwortungslos mit sich und ihren Mitmenschen, sogar ihren nächsten Angehörigen, umgehe und in dem, was sie sagt, unzuverlässig sei, die Jugendamtsakten der Stadt I, der Stadt S sowie die Akten der Amtsgerichte Herne-Wanne und Recklinghausen beizuziehen, soweit sie die Zeugin I2 betreffen. Weiter wurde beantragt, die beizuziehenden Akten der Verteidigung zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen.
Die Strafkammer beschloss u.a. die familiengerichtlichen Akten der Amtsgerichte Recklinghausen, Herne und Herne-Wanne beizuziehen. Auf die Anforderung der Kammer hin wurden dieser zumindest ein Teil der familiengerichtlichen Akten übersandt. Nach Eingang dieser Akten wandte sich die Strafkammer erneut an die genannten Amtsgerichte und bat um Entscheidung darüber,
–ob die Kammer Akteneinsicht erhalten dürfe,
–ob die Verfahrensbeteiligten die Akten ausgehändigt bekommen dürften und
–ob die Inhalte öffentlich erörtert werden dürften.
Die Beteiligte zu 2) lehnte mit Bescheid vom 09.07.2008 die Übersendung der Akten ab. Der Beteiligte zu 3) lehnte durch Bescheid vom 22.07.2008 eine Akteneinsicht durch den Verteidiger, nicht jedoch eine solche durch die Kammer ab. Der Beteiligte zu 4) lehnte durch Bescheid vom 16.07.2008 das Gesuch auf Übersendung, Akteneinsicht und Erörterung des Akteninhalts in öffentlicher Verhandlung ab. Die Strafkammer hob daraufhin ihren Beschluss über die Beiziehung der Akten mit der Begründung auf, die Akten seien für die Kammer unerreichbar.
Im nächsten Hauptverhandlungstermin beantragte der Verteidiger u.a. die Zeugin I2 erneut zu laden und sie zu ihrem Einverständnis hinsichtlich einer Verwertung der amtsgerichtlichen Akten zu vernehmen. In der Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass der Angeklagte sich mit einem weitgehenden Schutz des Geheimhaltungsinteresses der Beteiligten, so etwa dem Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Erörterung des Akteninhalts, einverstanden erklärt habe, weshalb die Bescheide der Behördenleiter von falschen Voraussetzungen ausgingen. Abschriften dieses Antrags nebst Begründung leitete die Strafkammer den Beteiligten zu 2) bis 4) zur. Diese haben ihre bisherige Haltung jeweils durch Bescheid vom 08.08.2008 bestätigt.
Durch Schriftsatz seines Verteidiger vom 03.09.2008 hat der Beteiligte zu 1) bei dem Oberlandesgericht beantragt, die zuletzt genannten Bescheide der Beteiligten zu 2) bis 4) aufzuheben und sie zu verpflichten, die Akten, welche die Zeugin I2 betreffen, an die Strafkammer zu dem gegen ihn geführten Strafverfahren herauszugeben.
II.)
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist gemäß § 23 EGGVG statthaft und auch sonst zulässig.
Nicht unproblematisch erscheint dabei allerdings die Antragsbefugnis des Beteiligten zu 1). Nach § 24 Abs.1 EGGVG ist nur derjenige antragsbefugt, der schlüssig geltend machen kann, durch das Unterlassen einer positiven Entscheidung in seinen Rechten verletzt zu sein. Da Justizverwaltungsakte grundsätzlich keine Drittwirkung entfalten (vgl. Kissel/Meyer, GVG, 5.Aufl., § 24 EGGVG § 24 Rdn.4), kann solches grundsätzlich nur angenommen werden, wenn der Antragsteller sein Ansinnen zuvor erfolglos bei der Justizverwaltung geltend gemacht, in der Regel also selbst einen Antrag gestellt hatte. Dies ist hier nicht der Fall, da die Beteiligten zu 2) bis 4) bislang allein über die als Amtshilfeersuchen zu qualifizierenden Anfragen der Strafkammer entschieden haben. Die rechtliche Betroffenheit eines Dritten, der außerhalb dieses Amtshilfeverhältnisses steht, bedarf danach einer besonderen Begründung.
Nach Lage der Dinge kann hier jedoch ausnahmsweise davon ausgegangen werden, dass die Entscheidungen der Beteiligten zu 2) und 3) auch unmittelbar auf die Rechtsposition des Beteiligten zu 1) einwirken. Nach der Abfolge der verschiedenen Anträge ist nämlich als sicher davon auszugehen, dass die begehrte Akteneinsicht -genauer: die unbeschränkte Befugnis zur Aktenauswertung- allein einer möglichen Entlastung des Angeklagten dienen soll.
Der im übrigen frist- und formgerecht eingereichte Antrag ist indes unbegründet, da die angegriffenen Entscheidungen nicht rechtswidrig sind und den Beteiligten zu 1) auch nicht in seinen Rechten verletzen.
Insoweit ist vorauszuschicken, dass Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, auch wenn man eine Antragsbefugnis des Beteiligten zu 1) aus den vorgenannten Gründen bejaht, allein die jeweilige Entscheidung über das Amtshilfeersuchen der Strafkammer ist.
Formale Grundlage der angegriffenen Entscheidung sind die Grundsätze des Amtshilferechts, das seine formale Grundlage in Art.35 GG hat. Nach den insoweit geltenden Grundsätzen (vgl. § 5 Abs.2 S.2 VwVfG-NW) darf die ersuchte Behörde keine Amtshilfe in Form der Überlassung von Akten oder Urkunden leisten, wenn die dort enthaltenen Informationen nach ihrer Art der Geheimhaltung bedürfen. Dies ist hier, wie die Beteiligten zu 2) bis 4) zutreffend ausgeführt haben, der Fall.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner grundlegenden Entscheidung vom 15.01.1970 (BVerfGE 27, 344ff) dahingehend erkannt, dass Akten über ein Ehescheidungsverfahren der Geheimhaltung unterliegen. Eine Einsichtnahme durch Dritte ist daher -vorbehaltlich der Zustimmung durch die Betroffenen- nur zulässig, wenn eine strenge Güterabwägung unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein überwiegendes Allgemeininteresse an der Akteneinsicht ergibt.
Die vom Bundesverfassungsgericht für Scheidungsakten aufgestellten Grundsätze müssen in noch gesteigerten, d.h. verschärftem Maße für die hier in Frage stehenden Akten über Sorgerechtsentziehungsverfahren gelten. Das BVerfG hat zur Wertigkeit des Geheimhaltungsinteresses für die in Scheidungsakten enthaltenen Informationen u.a. ausgeführt:
„c) Akten eines Ehescheidungsverfahrens betreffen zwar den privaten Lebensbereich der Ehepartner; sie können jedoch nicht dem schlechthin unantastbaren Bereich in dem Sinne zugerechnet werden, daß schon jeder Einblick durch Außenstehende von vornherein unzulässig wäre.
Schon das geltende Recht veranlaßt unter Umständen die Ehegatten, dem Gericht Kenntnis von dem innersten Bereich ihres gemeinsamen Lebens zu geben. Wenn es im Ehescheidungsverfahren zu einer Offenbarung von Vorgängen aus dem Privatleben gegenüber dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten kommt, so beruht dies darauf, daß es sich hier um einen vom Gericht zu entscheidenden Rechts- und Interessenkonflikt innerhalb der Ehe handelt. Aber auch hier ist die Offenlegung in bezug auf den Adressatenkreis – das Gericht und die Verfahrensbeteiligten – und in bezug auf den verfolgten Zweck – Herbeiführung der Gerichtsentscheidung – inhaltlich begrenzt.
Im Hinblick auf ihren Inhalt unterliegen die Ehescheidungsakten der Geheimhaltung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Auf diesen Schutz haben beide Ehepartner gemeinsam Anspruch. Der Akteninhalt kann daher regelmäßig nur auf Grund einer von beiden erteilten Einverständniserklärung der Kenntnisnahme von außen zugänglich gemacht werden. …“
Bei einem Sorgerechtsverfahren ist darüber hinausgehend zu berücksichtigen, dass dieses Verfahren regelmäßig nicht auf Veranlassung eines Beteiligten willentlich eingeleitet wird. Vielmehr handelt es sich um ein Amtsverfahren, durch welches der Staat zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter in einen Bereich der innersten Privatsphäre eindringt, der nicht allein durch die Art.2 Abs.1, 1 Abs.1 GG, sondern insbesondere auch durch Art. 6 GG der staatlichen Einflussnahme weitgehend entzogen ist (BVerfGE 24, 119ff). Die aktenkundigen Informationen gehen also anders als in einem zivilprozessualen Klageverfahren weniger auf die mehr oder minder freiwilligen Angaben der Verfahrensbeteiligten, sondern eine dem Amtsermittlungsgrundsatz folgende Aufklärungstätigkeit des Gerichts zurück.
Wird der Staat in Ausübung des ihm durch Art.6 Abs.2 S.2 GG übertragenen Wächteramtes und damit ganz ausnahmsweise und zu einem sehr begrenzten Zweck im innersten Bereich der Privatsphäre der Betroffenen tätig, so liegt es auf der Hand, dass den so gewonnenen Informationen höchster Geheimhaltungsschutz zukommen muss. Wenn der Staat sich die fraglichen Informationen überhaupt nur beschaffen darf, um einer erheblichen Gefährdung des Kindeswohls zu begegnen, so ist es evident, dass er umgekehrt verpflichtet ist, diese Informationen vor einer anderen Zwecken dienenden Kenntnisnahme durch Dritte zu schützen. Eine Preisgabe kommt danach -vorbehaltlich der Zustimmung aller Betroffenen- in der Regel nur in Betracht, wenn die Preisgabe Zwecken dient, die in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Verfahrenszweck stehen (z.B. Beiziehung zu weiteren familien- vormundschafts- oder strafgerichtlichen Verfahren betr. dasselbe Kind oder Geschwisterkinder). Ganz ausnahmsweise mag eine Preisgabe auch dann in Betracht kommen, wenn sie unter Anlegung eines strengen Maßstabes unabweisbar notwendig ist, um hochrangige Rechtsgüter zu schützen. Von nachrangiger Bedeutung ist hingegen, gegenüber welchem Personenkreis der Akteninhalt bekannt würde (i.Erg. OLG Köln VersR 1994, 363f).
Im Rahmen des Amtshilfeverfahrens sind die Voraussetzungen für die Überlassung einer grundsätzlich geheimhaltungsbedürftigen Akte durch die ersuchende Behörde bzw. das ersuchende Gericht im Einzelnen darzulegen (BVerfG a.a.O.). Diese Darlegung muss sich danach nicht nur auf alle für die Güterabwägung i.e.S. maßgebenden Umstände erstrecken, sondern auch ausführen, warum gerade die Akten die einzige verfügbare Erkenntnisquelle sind.
Diesen Anforderungen genügen die Anfragen der Strafkammer bei den Beteiligten zu 2) bis 4) nicht. Die von dem Beteiligten zu 1) herausgestellte Verpflichtung der Gerichte zur möglichst umfassenden Wahrheitsermittlung ist in diesem Zusammenhang ein eher abstrakter Aspekt. Hingegen ist vorliegend schon nicht ersichtlich und auch durch den Beteiligten zu 1) nicht dargetan, inwieweit die Strafkammer zur Wahrheitsermittlung zwingend auf die Kenntnis des Akteninhalts angewiesen ist. Die Fassung des ursprünglichen Beweisantrages und die eher allgemeinen Ausführungen der Kammer und des Beteiligten zu 1) sprechen eher dafür, dass es nicht um die Feststellung konkreter Umstände, sondern allein darum geht, die Akten nach Informationen zu durchstöbern, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin hilfreich sein könnten.
Die von der Kammer und dem Verteidiger mit der zweiten Anfrage erörterten Möglichkeiten einer Beschränkung der Öffentlichkeit, sind aus den o.a. Gründen weitgehend bedeutungslos. Die Geheimhaltungspflicht besteht im Grundsatz selbst gegenüber der Strafkammer, da die durch das Verfahren erhobenen Informationen nicht für das dortige Strafverfahren bestimmt sind.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 30 EGGVG, 30 KostO.
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